Dekarbonisierung von Immobilienportfolios
Klimaneutralität: Wirtschaftlich und sozialverträglich
Text: Peter Stammer, Holger Meid, Dr. Martin Handschuh | Foto (Header): © guy – stock.adobe.com
Nachhaltige Städte brauchen nachhaltige Gebäude. Bei Wohnimmobilien ist es essenziell, neben ökologischen Aspekten auch Sozialverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit klimaschutzbezogener Maßnahmen sicherzustellen. Einerseits muss Wohnraum bezahlbar bleiben, andererseits müssen sich Investitionen für Eigentümer rechnen. Um alles unter einen Hut zu bringen und ein Gesamtoptimum in den relevanten Dimensionen zu bestimmen, hat das Familienheim Heidelberg mit der Beratungsgesellschaft Eco2nomy seinen Gebäudebestand analysiert und die Klimaschutzroadmap zur Dekarbonisierung des gesamten Gebäudebestands entwickelt.
Auszug aus:
GEG Baupraxis
Fachmagazin für energieeffiziente und ressourcenschonende Neu- und Bestandsbauten
Ausgabe Juli / August 2021
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Die 1948 gegründete Baugenossenschaft „Familienheim Heidelberg eG“ plant, baut, verwaltet und vermietet Wohnimmobilien. Zudem bietet die eingetragene Genossenschaft den Erwerb von Wohnungseigentum für Eigennutzer oder Kapitalanleger an, berät bei Finanzierungen und verwaltet Fremdportfolios. Im Eigentum hält das Unternehmen aktuell 78 Gebäude in Heidelberg und Umland. Das Portfolio umfasst 1.100 Mietwohnungen mit einer Wohn- und Nutzfläche von rund 81.000 m². Das älteste Gebäude stammt aus dem Jahre 1855; die meisten anderen wurden in den Baujahrintervallen von 1950-1980 und 1995-heute errichtet. An weitgehend allen Immobilien wurden in den letzten Jahren Modernisierungsmaßnahmen mit dem Ziel des Bestandserhalts und der aktiven Bestandsentwicklung durchgeführt.
„Das Familienheim Heidelberg bietet attraktiven, familiengerechten und bezahlbaren Wohnraum. Nachhaltigkeit steht hierbei für uns im Vordergrund. In der Vergangenheit haben wir regelmäßig in energetische Modernisierung investiert, aber wir wollen unsere Liegenschaften künftig komplett klimaneutral gestalten. Daher haben wir entschieden, unsere ‚Klimaroadmap 2030+‘ für unser Portfolio zu erarbeiten und diese in den nächsten Jahren sukzessive umzusetzen“, sagt Peter Stammer, geschäftsführender Vorstand des Familienheims Heidelberg. Um die Klimaroadmap 2030+ zu entwickeln, holte das Familienheim Heidelberg ein Beratungsunternehmen mit an Bord.
Die Stuttgarter Eco2nomy GmbH hat mit dem Management-Team sowie den Abteilungen Technik, Asset- und Portfoliomanagement, Finanzen und Finanzierung sowie Mieterbetreuung des Familienheims Heidelberg von September bis Dezember 2020 die Strategie, den konkreten Maßnahmen- sowie Businessplan für die energetische Modernisierung hin zur Dekarbonisierung des gesamten Gebäudebestands erarbeitet.
Auf dem Weg zum CO2-Fahrplan
Gemeinsam im Team wurden alle Fragen beantwortet, die für die wirtschaftliche und sozialverträgliche Dekarbonisierung von Gebäudebeständen essenziell sind. Dabei ging es vor allem um folgende Punkte:
- Wie schaffen wir es, unseren Gebäudebestand hin zur Klimaneutralität zu führen? Wie können wir selbst als Immobilieneigentümer CO2-Emissionen reduzieren? Wo und wie sind wir abhängig von Dritten, z. B. klimaneutrale Fernwärme und klimafreundliches Mieterverhalten?
- Wie können wir Ökologie, Wirtschaftlichkeit und Sozialverträglichkeit bestmöglich vereinen? Mit welchen Maßnahmen, welchem Timing, welchen Förderungen, welcher Finanzierung und welchen Miet-Effekten?
- Welche Verbesserungen können wir bis wann erzielen? 2025, 2030, 2050? Unter Erfüllung welcher externen Vorgaben und unter welchen Rahmenbedingungen? Mit welchen Investitionsbedarfen, welchen Trade-offs, welchen Maßnahmen je Gebäude?
- Mit welchen Kurzfristmaßnahmen können wir bereits in den nächsten ein oder zwei Jahren schnell greifbare Erfolge und CO2-Emissionsreduktionen realisieren? Energiemonitoring und -management, Heizungstausch, Photovoltaik, Sanierung von Gebäuden mit besonders hohen CO2-Emissionen, Realisierung von klimaneutralen Quartierslösungen mit Einsatz erneuerbarer Energien etc.?
- Wie können wir Daten, Digitalisierung und neue Technologien am besten nutzen? Datenmanagement, Analytik, Modellierung und Szenario-Simulationen, Automatisierung, (digital unterstütztes) Projekt- und Partnerschaftsmanagement, Reporting etc.?
Um die wirtschaftlichste Modernisierungsstrategie und die zugehörigen Maßnahmen für große Gebäudeportfolios zu bestimmen, hat Eco2nomy Strategien, Methoden und Optimierungsinstrumente entwickelt. Diese wurden im Rahmen der gemeinsamen Zusammenarbeit angewendet, um die Basis für belastbare, zukunftsweisende Managemententscheidungen zu schaffen.
Status Quo Gebäudebestand
Im ersten Schritt wurden gemeinsam unter Nutzung der Eco2nomy-Software „Multi-Cube“ relevante Daten für das Gebäudeportfolio erfasst, konsolidiert und validiert. So wurde ein systematischer Überblick über das Portfolio geschaffen sowie Handlungsbedarfe, Opportunitäten und Risiken identifiziert und bewertet. Da alle Tools des Beratungsunternehmens in Java programmiert und für Nutzer über ein Excel-Front-End zu nutzen sind, lassen sich Daten einfach aus anderen Systemen integrieren und exportieren. Durch die von Eco2nomy erarbeitete Datenstruktur ist dabei ein guter Fit zu typischerweise vorliegenden Kundeninformationen gegeben. Relevante Vorarbeiten und bereits erfasste bzw. erhobene Daten werden genutzt, nichts muss doppelt gemacht werden. Und wenn die Daten strukturiert vorliegen, reicht „copy-paste“. Die Bestandsaufnahme für die Klimaroadmap 2030+ startete mit leicht und schnell verfügbaren bzw. zu ermittelnden Daten, wie etwa der Adresse des Gebäudes, beheizten Flächen, der Anzahl an Nutzungseinheiten, Strom-, Gas-, Öl-, Fernwärme- und sonstigen Energieverbräuchen sowie optional den Energieausweisen. Auch Informationen, wie die Leistung der Heizung, die Kosten für Betriebsführung, Wartung, Instandhaltung sowie Angaben zu Leerstandsquoten, Denkmalschutz, Erbbaurecht sowie zum Einsatz von Energiemonitoring, Photovoltaik, Solarthermie und Elektromobilität flossen in diese Bestandsaufnahme ein. Eine weitere zielgerichtete Ergänzung und Vertiefung der Daten erfolgte aufbauend auf dieser Basis im nächsten Schritt.
Die wirtschaftlichste Dekarbonisierungsstrategie
Ausgehend von den Portfolioanalysen wurden im zweiten Schritt mit dem „Roadmap-Optimizer“ von Eco2nomy verschiedene Strategievarianten für die energetische Modernisierung des Portfolios ermittelt, quantifiziert und die bestgeeignete weiter konkretisiert. Grundlage hierfür war das Zusammenstellen weiterer Daten insbesondere zur Gebäudegeometrie, zur Instandhaltungshistorie und zur Instandhaltungsplanung für die Gebäude und Heizungen sowie zu Mietpreisen. Bei keiner der Analysen von Eco2nomy ist es nötig, wohnungsspezifische Daten zu verwenden. Nicht-personenbezogene Informationen auf Gebäudeebene reichen aus.
In einem zweistufigen Optimierungsprozess wurden nun für die Bestimmung der bestgeeigneten Klimaroadmap zuerst je Gebäude multidimensionale Optimierungen auf Basis von mehr als 160.000 Modernisierungsvarianten in acht Gewerken durchgeführt: Heizungsanlage/-system inkl. Betriebsoptimierung, Dach, Fassade, Fenster, Türen, Keller, Energiemanagement/Gebäudeautomatisierung und Aufzüge. So wurde je Gebäude der „wirkungsoptimale Maßnahmenmix“ mit bestem Kosten- und Nutzenverhältnis bestimmt. Zudem wurden die zugehörige Eigenkapitalrendite, Effekte für Mieter und Vermieter und die Implikationen auf den Immobilienwert quantifiziert.
Im Anschluss erfolgten weitere Optimierungen auf Portfolioebene mit dem Ziel, das Gesamtoptimum aus Ökologie, Wirtschaftlichkeit und Sozialverträglichkeit zu bestimmen. Relevante Parameter auf Gesamtportfolioebene, die dabei bestimmt werden, waren u. a. der richtige Maßnahmenmix, das richtige Timing der Maßnahmenumsetzung sowie Aspekte der Finanzierung, der Nutzung von Förderungen und der Mietpreisentwicklung. Relevante Förderprogramme auf Bundesebene sind dabei für die Simulationsrechnungen im Eco2nomy-System hinterlegt. Landes- sowie ggf. städtische und kommunale Programme pflegt das Unternehmen jeweils spezifisch ins System ein.
Der Roadmap-Optimizer erlaubt es, verschiedene Rahmenbedingungen, bspw. jährliche Maximalbudgets, vorzugeben und dann verschiedene Strategievarianten als Basis für fundierte, vorausschauende Managemententscheidungen zu quantifizieren. Die Modellierung der Effekte basiert dabei auf Cash-Flow-Basis, wobei Eco2nomy alle relevanten Inputs mit den Kunden abstimmt, um Konsistenz mit der Business-
Planung sicherzustellen. Das schafft Klarheit darüber, was sich rechnet und was zu tun ist. Und auch darüber, was nicht. So kann das Management von Wohnungs- und Immobiliengesellschaften aus dieser Bandbreite an Optimierungshebeln und den damit einhergehenden Möglichkeiten die bestgeeignete Kombination für das jeweilige Portfolio finden. Als Ergebnisse seiner Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen lagen dem Familienheim Heidelberg nach weniger als vier Monaten folgende Ergebnisse vor:
- Portfolioanalyse und -bewertung: Energetischer Zustand, CO2-Emissionen, Potenziale, Handlungsfelder, Chancen, Risiken etc.
- umfassende Wirtschaftlichkeitsmodellierung und Szenariorechnungen: Modernisierungsvarianten, Investitionen, Förderungen, laufende Kosten, Effekte für Mieter etc.
- Modernisierungspfad für die Dekarbonisierung des Gebäudebestands: Maßnahmen und Investitionen im Zeitverlauf, Förderungen, Finanzierung, CO2-Emissionen, Energieverbräuche, Wirtschaftlichkeit etc.
- (Kurzfrist-)Maßnahmen für schnelle Erfolge
- Umsetzungsplanung und nächste Schritte
„Unsere erarbeitete Klimaroadmap sagt uns, bei welchem unserer Portfoliogebäude wir welchen optimalen Maßnahmenmix, zu welchem Zeitpunkt, mit welchen Kosten und mit welcher ökologischen sowie sozialen Wirkung durchführen“, erklärt Holger Meid, Vorstand des Familienheims Heidelberg. „Der Plan ist gemacht – jetzt geht es um die Umsetzung.“ Der Multi-Cube und der Roadmap-Optimizer stehen der Baugenossenschaft dabei weiterhin zur Verfügung. Sie bilden die Grundlage, um Maßnahmenumsetzung und Ergebniserzielung zu steuern und zu dokumentieren. Updates und Anpassungen bspw. an künftige Änderungen des Ordnungs- und Förderrahmens sind möglich.
Konkrete Maßnahmen – schnelle Ergebnisse
Konkret sieht die Klimaroadmap für das Familienheim Heidelberg Folgendes vor, um die Energieverbräuche und CO2-Emissionen der einzelnen Gebäude zu reduzieren:
- Bereits kurzfristig werden Quick-Wins mit vergleichsweise geringen Investitionen und schneller Amortisation angegangen, bspw. Energiemonitoring und -management zuerst für ausgewählte Pilotgebäude und fortan für immer mehr Gebäude, Heizungstausch und Ausbau der Photovoltaik.
- Ebenso bereits kurzfristig steht die Sanierung von Gebäuden mit besonders hohen CO2-Emissionen sowie die Etablierung nachhaltiger Quartierslösungen auf der Agenda.
- Ab 2025 folgt die kontinuierliche Portfoliooptimierung: Teil- oder Vollsanierungen mit Kopplung von Energieeffizienzmaßnahmen mit nicht-energiebezogenen Instandhaltungsaktivitäten.
Flankiert werden diese Maßnahmen durch „systemische“ Effekte auf Basis nachhaltiger Versorgungslösungen, bspw. durch die Nutzung nachhaltig produzierter Fernwärme und den Einsatz von Ökostrom für Wärmepumpen. Hinzu kommen Aktivitäten, um Mieter dazu anzuregen, sich klimafreundlich und energiesparend zu verhalten: Informationen, Wettbewerbe und Events zum Energiesparen, Wohnungsautomation etc.
Bis 2035 wird das Familienheim Heidelberg 21,5 Mio. Euro in entsprechende Maßnahmen investieren. Damit wird der durchschnittliche spezifische Energieverbrauch von aktuell ca. 131 kWh/m2a in 2019 auf 70 kWh/m2a in 2035 sinken und es werden über 1.200 Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr vermieden. Hinzu
kommen die „systemischen“ Effekte, die es erlauben, das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu schaffen. 2021 hat das Familienheim bspw. mit der Detailplanung der nachhaltigen Versorgung des Quartiers Neue Heimat mit 13 Bauten und rund 200 Wohneinheiten in Nussloch begonnen1). Realisiert werden hierbei u. a. ein Nahwärmenetz mit zentraler Holzpellet-Doppelanlage sowie umfassende Dämmmaßnahmen. Zudem kommen digitale Lösungen zum Einsatz.
Peter Stammer fasst die Erarbeitung der Klimaroadmap gemeinsam mit Eco2nomy zusammen: „Der Druck aus Brüssel und Berlin zur Dekarbonisierung unserer Gebäudebestände wird weiter wachsen. Wer früher startet, hat mehr Zeit – gerade in einem Markt mit Engpässen auf Anbieterseite. Wichtig ist der gesamtheitliche Blick und die sorgsame Gesamtoptimierung in Bezug auf Ökologie, Ökonomie und Sozialverträglichkeit nicht nur mit einer technischen Bestandsaufnahme, sondern auch mit Analysen in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit sowie die Auswirkungen auf Bilanz und GuV. Auf Basis unserer Arbeit sind wir überzeugt: Der Aufwand lohnt sich. Mit vielen, bereits kurzfristig realisierbaren Vorteilen und mit langanhaltender positiver Wirkung, die weit über unser berufliches Wirken hinausgeht.“
1) Näheres zu diesem Projekt erfahren Sie in der nächsten Ausgabe der GEG Baupraxis.
Der Autor
Peter Stammer
Geschäftsführender Vorstand des Familienheims Heidelberg
Holger Meid
Vorstand des Familienheims Heidelberg
Dr. Martin Handschuh
ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Eco2nomy GmbH. Er arbeitet mit Eigentümern von Immobilienportfolios daran, diese wirkungsvoll, wirtschaftlich und sozialverträglich zur Klimaneutralität zu führen.